Verbundprojekt smartmarket² - Prof. Dr. Daniel Beverungen im Interview

Durch die Digitalisierung der Wertschöpfungsketten im Handel haben sich neuartige Geschäftsmodelle des Online-Handels etabliert, die einen stetig wachsenden Anteil des Einzelhandelsumsatzes auf sich vereinen. Zugleich beeinflusst die Digitalisierung auch bestehende Geschäftsmodelle: Kunden des innerstädtischen Einzelhandels nutzen mobile Endgeräte als Informationsquelle für Preisvergleiche, Erfahrungsberichte und Produktinformationen. Multi-Channel-Konzepte ermöglichen es, im Internet vorab die Verfügbarkeit von Waren im Geschäft zu prüfen, Waren zu bestellen und im Geschäft abzuholen oder nach Hause gelieferte Waren im Geschäft zurückzugeben. Im Einzelhandel werden Digitalisierungspotentiale der Geschäftsmodelle bislang fast ausschließlich durch große Filialisten erschlossen, sodass das Umsatzwachstum im Online-Handel zumeist auf Kosten traditioneller Fachgeschäfte realisiert wird. Als Folge lässt sich in vielen Innenstädten ein Rückgang des kleinen und mittelständischen Einzelhandels beobachten.

Das Verbundprojekt SmartMarket² nutzt die Innovationspotentiale der Digitalisierung, um neuartige Mehrwertdienste und Applikationen zur Stärkung des innerstädtischen Handels zu entwickeln. Es trägt somit nachhaltig dazu bei, dass Charakter und Profil des städtischen Lebens, welches maßgeblich durch den Handel geprägt wird, erhalten und sogar aufgewertet werden können. Das Projekt wird gemeinsam durch Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft und die Universitäten Duisburg-Essen, Paderborn und das Institut für Wirtschaftsinformatik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster durchgeführt.

Die COVID-19-Pandemie beschleunigt die Digitalisierung. Gerade der Einzelhandel musste sich vor einigen Wochen von heute auf morgen auf die veränderte Situation einstellen. Geschäfte mussten schließen, die Innenstädte verwaisten, Kunden kauften vermehrt online. Der Einzelhandel wird nach der Corona-Pandemie vermutlich nicht mehr derselbe sein wie zuvor, doch wie können Händler die Digitalisierung nicht nur in der jetzigen Situation aktiv für sich nutzen?

Daniel Beverungen: Die Corona-Pandemie hat viele Bereiche des täglichen Lebens von Grund auf umgekrempelt. Ohne digitale Technologien ging von jetzt auf gleich fast nichts mehr. Das betrifft nicht nur das Büro, das ins Homeoffice verlagert wird, oder den Weinabend mit Freunden, der auf Distanz über Videochats stattfindet. Die Innenstädte mussten von einem Tag auf den anderen nahezu komplett schließen, Geschäfte durften nicht mehr öffnen und wurden so der Interaktion und Kommunikation mit ihren Kunden beraubt. Während der Online-Handel fortgesetzt wurde und den Umsatz teilweise sogar erheblich steigern konnte, hatten viele inhabergeführte Geschäfte, die noch keine digitalen Angebote machen, das Nachsehen. Manche Einzelhändler und Gastronomen sind auf die Idee gekommen, Gutscheine oder auch einen Lieferservice für ihre Produkte anzubieten, auch wenn es aus unserer Sicht eher eine kleine Avantgarde war, die in der Zeit des Lockdown wirklich kreative Ideen umgesetzt hat.

Doch wie sollten Händler ihre Kunden am besten über ihre Angebote informieren? Die Innenstädte leben nun einmal vom persönlichen Kontakt mit ihren Kunden, der plötzlich weggebrochen war. Eine Ansprache der eigenen Kunden war folglich kaum noch möglich und auch für einzelne Händler kaum erfolgversprechend; Kunden hätten sich ja nahezu über jedes Geschäft einzeln informieren müssen. Mithilfe digitaler Technologien, wie der Plattform SmartMarket², war es weiterhin möglich, die Kunden der gesamten Innenstadt mithilfe einer App zu erreichen und über die Angebote während des kompletten Lockdown zu informieren. Einige wenige Händler nutzen darüber hinaus bereits soziale Medien, um mit ihren Kunden zu kommunizieren. Über einen eigenen Internetauftritt oder einen Online-Shop verfügen allerdings die wenigsten Händler. Filialisten, die bereits Omni-Channel-Konzepte umgesetzt hatten, hatten es zwar leichter, ihr Geschäftsmodell mit Einschränkungen weiterzubetreiben. Die prekäre Lage von GALERIA Karstadt Kaufhof zeigt allerdings auch hier, dass selbst Filialisten so ihre Probleme haben, ohne den Kontakt im Ladengeschäft auszukommen.

Eine eigene App oder ein eigenes Angebot mit Lieferservice dauerhaft für sich umzusetzen, können sich kleine Einzelhändler in der Innenstadt kaum leisten, da isolierte Lösungen zur Zersplitterung der Kundenbasis führen. Aber eine zentrale digitale Plattform, die alle Händler in einer Innenstadt vereint und die lokalen Kunden erreicht, ist ein möglicher Ansatz, den wir im Projekt SmartMarket² verfolgt haben. Wie diese Plattform ausgestattet ist, lässt sich nach Bedarf gestalten: Als reine Informationsplattform, die über Händler informiert und Neuigkeiten aus der Innenstadt in einer Art News-Feed anzeigt, eine Informationsplattform mit Angeboten und Ereignissen, die während des Einkaufserlebnisses interessant sein können, oder aber eine weiter ausgebaute Plattform, die Dienste wie einen Lieferservice anbietet. Die Notwendigkeit, digital erreichbar und präsent zu sein und die Kunden auf diesem Weg erreichen zu können, hatten viele Händler vor der Pandemie leider noch nicht erkannt; man verließ sich auf die Vorteile der persönlichen Beratung im Ladengeschäft und darauf, dass Kunden weiterhin den persönlichen Kontakt suchen werden. Die Pandemie beschleunigte somit die Notwendigkeit zur Digitalisierung des stationären Handels, eher als diese erst hervorzubringen. Händler, die die Digitalisierung weiterhin verschlafen, werden daher umso schneller aus dem Markt gedrängt werden.

Ganz einfach erklärt: Wie spreche ich Kunden am besten digital an?

Beverungen: Dafür braucht es zunächst einen digitalen Kommunikationskanal zum Kunden. Ein Innenstadthändler hat in aller Regel keine Kontaktadressen seiner Kunden; wenn überhaupt, gelingt dies höchstens über Loyalitätsprogramme, die jedoch eher Filialisten betreiben. Soziale Medien können auch für kleine Händler funktionieren, jedoch muss man bedenken, dass auch mit ihnen keineswegs alle Kunden erreicht werden können: Unsere Forschung hat gezeigt, dass globale soziale Medien von der Händlerschaft nicht als das geeignete Medium zur gezielten Ansprache der lokalen Kunden angesehen werden. Vielmehr wünschen sie sich lokale Kanäle, auf denen sie Menschen erreichen können, die dann den Weg in ihr Ladengeschäft finden, so dass die Händler ihre klassischen Stärken ausspielen können. Zusätzlich ist es wichtig, Kunden nicht mit für sie irrelevanten Informationen zu überfluten. Personalisierung ist dabei entscheidend. So muss ich mir als Händler vorab überlegen, welche Kunden ein bestimmtes Angebot interessieren könnte und wen ich damit konkret ansprechen möchte. Solch eine Personalisierung kann zu einer deutlich höheren Konversionsrate – d.h. dem Anteil der Personen, die aufgrund der Ansprache tatsächlich in den Laden kommen und Artikel kaufen – führen als eine Anzeige in der lokalen Zeitung.

Die Innenstädte werden auch nach der COVID-19-Pandemie weiterhin eine wichtige, wenn auch veränderte Rolle für eine attraktive Stadt einnehmen. Doch profitieren alle Einzelhändler in gleicher Weise von der Digitalisierung und dem veränderten Konsumverhalten?

Beverungen: Die digitale Ökonomie behandelt keineswegs alle Akteure gleich; vielmehr verstärkt sie bestehende Ungleichheiten und bringt digitale Superstars hervor, die allein eine hohe Marktmacht erreichen und ihre Konkurrenten nicht nur übertreffen, sondern deklassieren. Digitale Plattformen sind hier das schlagende Beispiel für den Handel. Diese Regeln der digitalen Ökonomie sehen wir bereits seit vielen Jahren.

Ob sich das Konsumverhalten durch die Pandemie selbst noch einmal nachhaltig ändern bzw. ob sich die Änderung substanziell beschleunigen wird, wird sich noch zeigen. Derzeit zeigen sich viele Kundinnen und Kunden natürlich vorsichtiger und zurückhaltender, was das Einkaufen in den Innenstädten anbelangt, auch wenn die Innenstädte mittlerweile wieder gut belebt erscheinen. Auf jeden Fall aber ist die Anzahl an Online-Bestellungen aufgrund der Pandemie bereits spürbar gestiegen und bewegt sich weiterhin auf einem hohen Niveau. Dies stellt aus unserer Sicht aber eher eine Beschleunigung eines Trends dar, der sowieso bereits seit einiger Zeit seinen Lauf nimmt. Jüngere Kunden kaufen zunehmend online ein und führen weniger Innenstadtbummel durch. Viele Händler haben sich viel zu lang darauf verlassen, dass die Welt schon so bleiben wird, wie sie ist. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen wirft die Pandemie ein grelles Licht auf die Nachteile dieser Einstellung. Der Handel wäre gut beraten, sich nicht darauf zu verlassen, dass es nach der Pandemie zurück geht zum Status quo ante. Jetzt ist keine Zeit der Rückbesinnung, sondern eine Zeit für mutige Veränderungen.

Die jüngsten Erfahrungen zeigen, dass Filialisten mit Omni-Channel-Strategien oder auch Innenstadthändler, die ihre Waren schon über das Internet vertreiben, die Einschränkungen der Corona-Zeit viel besser überstanden haben. Teilweise konnten sie mindestens einen Teil ihres Geschäfts aufrechterhalten oder sogar weiter dazu gewinnen, und konnten sich so in ihren Digitalisierungsbestrebungen bestärkt fühlen. Diese Händler können anderen als Vorbild dienen.

Gespräche mit bereits digitalisierten Einzelhändlern zeigen, dass es darauf ankommt, aufgeschlossen zu sein, neue Dinge auszuprobieren und dass man Veränderungsbereitschaft an den Tag legen muss. Viele Einzelhändler in der Innenstadt lassen diesen Pioniergeist leider noch vermissen. Während für einige ein eigener Internetauftritt absolut dazugehört, sie sich in sozialen Medien präsent zeigen und teilweise substanziell selbst online verkaufen, findet man andere selbst heute nur im Telefonbuch und selbst Öffnungszeiten sind online nicht gepflegt. Das muss sich zügig ändern oder man nimmt das Ende des eigenen Erfolgs billigend in Kauf.

Wie genau sieht die „lebendige Innenstadt der Zukunft“ aus?

Beverungen: Ich bin mir sicher, dass die Innenstädte weiterhin einen ganz entscheidenden Beitrag zu einer lebendigen und lebenswerten Stadt leisten werden. Ich glaube aber auch, dass die Bedeutung von hedonistisch motivierten Innenstadtbesuchen zunehmen wird. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger werden Innenstädte zukünftig noch eher aufsuchen, um dort Zeit zu verbringen, Freunde zu treffen und mit Muße einkaufen zu gehen. Innenstadtbesucher betrachten den Einkaufsbummel immer weniger als zielgerichtete Aktivität (das findet eher online statt), sondern eher als Unterhaltung. Soziale Faktoren und Spaß stehen dabei eher im Vordergrund als einen vorher festgelegten Artikel zu einem möglichst geringen Preis zu kaufen. Einen Preiskampf mit dem Online-Handel kann sich ein Einzelhändler in der Innenstadt ohnehin nicht auf Dauer leisten. Selbst im Bereich der Kundenfreundlichkeit, einst eine Paradedisziplin des lokalen Handels, wird es eng; Amazon verfolgt nicht umsonst die Strategie, das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt zu sein, und das gesetzlich etablierte Widerrufsrecht gilt im Fernabsatzhandel ohnehin.

Das Innenstadterlebnis kann aber durchaus mit digitalen Technologien aufgewertet werden, beispielsweise mit standort- und interessenbezogenen Zustellungen von Angeboten. Da hedonistisch geprägte Innenstadtbesuche eher nicht komplett durchgeplant sind, sondern der Zeitvertreib im Vordergrund steht, sind die Leute auch offen für Inspirationen während ihres Einkaufsbummels. Als Händler kann ich mir das zunutze mache, indem ich Angebote veröffentliche, die ortsbezogen sind und spontane Käufe anregen. Nur ein Beispiel: Sind für eine Theater- oder Kinoaufführung am Abend noch Karten übrig, können diese speziell in den letzten Stunden vor der Aufführung beworben werden. Es kommt auf kreative Angebote an, die aus Sicht der Kunden interessant sind.

Zusätzlich könnte man sich auch erfolgreiche Strategien vom Online-Handel abschauen und diese für die Innenstadt anpassen: Personalisierte Angebote haben wir bereits angesprochen. Empfehlungssysteme sind eine Möglichkeit, Innenstadtbesuchern bisher unbekannte, interessante Händler oder Produkte vorzustellen. Diese Systeme zahlen sicherlich positiv auf das Einkaufserlebnis ein, zumindest wenn man personalisierte Empfehlungen auch annehmen möchte und nicht einfach nur die übliche Route in der Innenstadt ablaufen will.

Wie kann die Digitalisierung helfen, die Innenstädte und gerade die Innenstadt Paderborns zu beleben?

Beverungen: Dazu muss man zunächst sagen, dass die Digitalisierung sicherlich einen Beitrag zu einer lebenswerten und belebten Innenstadt leisten kann, aber natürlich auch kein Allheilmittel ist. Die Innenstadt Paderborns ist zum Glück weiterhin sehr belebt und lebendig. Daher ist hier die Fragestellung eine ganz andere als in anderen Städten, die weniger Bedeutung in ihrer Region haben. In Paderborn muss man sich eher die Frage stellen, wie die Digitalisierung helfen kann, die Innenstadt attraktiv und lebendig zu halten. Gerade weil in Paderborn die Innenstadt recht belebt ist, sahen viele Händler bisher noch nicht die Notwendigkeit, sich – wenn noch nicht geschehen – digital aufzustellen oder ihre digitale Präsenz auszubauen. Diese Händler zu erreichen und von der Notwendigkeit der Digitalisierung zu überzeugen, erleben wir auch selbst als eine sehr große Herausforderung.

Wir hoffen, dass der Handel insgesamt nun die richtigen Lehren aus der Pandemie ziehen wird und sich traut, konkrete Initiativen umzusetzen. Nichts zu tun kann nun keine Option mehr sein. Vielleicht haben die Auswirkungen des Lockdown, die sicherlich zu schwierigen Situationen geführt haben, zumindest ein Gutes: Sie haben den Trend zur Digitalisierung im Handel und seine Auswirkungen – die seit Jahren zu beobachten sind, aber für manche bisher noch zu wenig wahrnehmbar waren – mit großer Wucht in das Bewusstsein gerückt. Die Pandemie hat so, wie in so vielen Bereichen unseres Lebens, ein grelles Licht auf die derzeitigen Strukturen – hier speziell auf die Konsequenzen der Untätigkeit im Handlungsfeld der Digitalisierung – und mögliche Auswirkungen geworfen. Ich denke, dass wir alle gut daran tun, den lokalen Einzelhandel zu stärken und zu unterstützen. Sonst finden wir uns dereinst in einer Stadt ohne innerstädtisches Leben wieder. Ich denke, das kann niemand wollen.

Für das wichtigste halten wir für Händler: Spielen Sie Ihre Stärken aus, zeigen Sie Präsenz mit Ihrem Produktangebot und spezifischen Angeboten, die aus Sicht Ihrer Kunden interessant sind und einen Mehrwert bieten. Das geht heute nicht mehr nur physisch im Laden, sondern auch digital und vor allem in der Kombination beider Kanäle. In der persönlichen Interaktion und der regionalen Verankerung, die zweifellos noch immer wichtig für Bürgerinnen und Bürger einer Stadt sind, haben Sie dem Online-Handel noch immer einiges voraus. Treffen Sie jetzt die richtigen Maßnahmen, um diese Stärken auch digital zur Geltung zu bringen!

Kontakt

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Prof. Dr. Daniel Beverungen

Wirtschaftsinformatik, insb. Betriebliche Informationssysteme

Universitätsprofessor, Lehrstuhlinhaber

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