Gotik und Informatik – Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Manfred Nagl im Interview

Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Manfred Nagl leitete von 1986 bis 2009 den Lehrstuhl für Softwaretechnik an der RWTH Aachen, seit 2009 arbeitet er dort als Emeritus. 2010 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik der Universität Paderborn. Seine Haupt-Arbeitsgebiete sind Graph-Ersetzungen (Spezifikation und Spezifikationssysteme sowie Prototyping), Software-Architekturen, Software-Werkzeuge für die Software-Entwicklung und den Entwurf in vielen Ingenieuranwendungen sowie Programmiersprachen. Er ist Autor von fünf Büchern und Mitherausgeber von 20 Tagungsbänden und Sammelwerken. Er war Sprecher der DFG-Forschergruppe SUKITS (mit dem Maschinenbau), des SFB 476 und des Transferbereichs 61 (mit der Verfahrenstechnik) und Leiter des IPSEN-Projektes. Er hatte eine Vielzahl von Ämtern inne, z. B. Vorsitzender des Fakultätentags Informatik und des Fakultätentags-Verbundes 4ING. Wir sprachen mit ihm über sein Buch "Gotik und Informatik – Intelligenter Entwurf damals und heute".

Gotik und Informatik, das 14. und das 21. Jahrhundert. Wo bestehen Ihrer Ansicht nach Schnittpunkte zwischen einem Baumeister des Kölner Doms und dem Software-Architekten eines großen Softwaresystems?

Manfred Nagl: Beide haben eine klare Struktur des entsprechenden Bauwerks oder Softwaresystems im Kopf, unterscheiden Wichtiges von Details, die später nach dem Entwurf zu erledigen sind. Beide verstehen ihr Handwerk: Der gotische Architekt war vorher Steinmetz für wesentliche Teile, der Software-Architekt sollte größere Erfahrung in der Programmierung haben. Beide haben grundlegende Kenntnisse in vorausgehenden Projekten gesammelt, sind gute Organisatoren und können mit unterschiedlichen Personen umgehen, um diese für eine Idee zu begeistern.

Ihr Buch „Gotik und Informatik – Intelligenter Entwurf damals und heute“ richtet sich in erster Linie an Informatiker und Ingenieure, die sich für Baugeschichte und Architektur interessieren. Welche Erkenntnisse können die Leser*innen für ihre eigene (wissenschaftliche) Arbeit mitnehmen?

Nagl: Viele davon sind in Projekten tätig. Hier gibt es zwei Botschaften. (a) In der Gotik waren zwei Personen an der Spitze tätig: Der Bauherr, für die Idee und für die Geldbeschaffung verantwortlich, und der Architekt, für die technische und künstlerische Ausführung. Beide hatten ein großes Interesse am Erfolg des Projektes und mussten eng zusammenarbeiten. Bei heutigen Großprojekten für Software und Bauwesen ist das oft nicht der Fall, insbesondere bei öffentlichen Projekten. Deshalb scheitern viele finanziell oder technisch (BER, Elbphilharmonie, Flughafen Denver). (b) Gotische Kirchen hatten eine lange Bauzeit: 50 Jahre sind kurz, Jahrhunderte sind normal, extrem ist Köln von 1248 bis 1880. In dieser langen Zeit hat sich vieles geändert, auch der Baustil und die Bauausführung. Dennoch gelang es meist, ein Gebäude zu errichten, das „wie aus einem Guss“ aussieht. Das ist bei Softwaresystemen mit 30jähriger Bau- und Wartungszeit nie der Fall. Gotische Architekten gingen mit der Vorgeschichte sehr sorgsam um und modifizierten mit großer Sensibilität.

Die Architekturepoche Gotik zeichnet sich durch einen einzigartigen Baustil aus, die Kathedrale symbolisiert ein architektonisches Gesamtkunstwerk, unterschiedliche Gewerke arbeiteten eng zusammen, waren aufeinander angewiesen und gingen systematisch vor. Welche Vorteile sehen Sie in diesem Rollenverständnis und der interdisziplinären Vorgehensweise der damaligen Zeit?

Nagl: Nur zwei von vielen möglichen Antworten. (i) Der Erfolg beruhte auf Konkurrenz: Jede Region wollte die größte, höchste und prachtvollste Kirche bauen. Architekten waren Stars, ebenso die besten Steinmetze, es bestand immer die Gefahr, sie an die Konkurrenz zu verlieren. Sie mussten pfleglich behandelt werden (Geld und Achtung). Auch die anderen Handwerker waren wichtig, man war sich dessen bewusst. (ii) Der Erfolg beruht auch auf dem Austausch der Erfahrung und des Wissens (sogar international) durch die Bauhütten. Die Gotik war eine gesamteuropäische Bewegung. So reifte das Wissen und wurde von Bauhütte zu Bauhütte weitergegeben. Das war so nicht geplant, ist aber dennoch ein Schlüssel für den Erfolg.

Welche der soeben beschriebenen Aspekte lassen sich Ihrer Ansicht nach auf Arbeitsstrukturen der heutigen Zeit übertragen?

Nagl: Hier ist eine gewisse Vorsicht angebracht. Der Unterschied zwischen einem hundertjährigen Bauprojekt aus Stein und einem Projekt für immaterielle Software in einer kurzlebigen Zeit ist beträchtlich. Es gibt aber allgemeingültige Leitsätze: Such nach sehr guten Leuten (technisch, organisatorisch, kommunikativ), behandle sie pfleglich, lasse sie arbeiten und behindere sie nicht durch Bürokratie und unnütze Regeln. Diese einfachen Leitsätze werden jeden Tag vielfach verletzt, in der Wissenschaft, in der Industrie, in der Wirtschaft und in der Politik.

Derzeit werden neue Ansätze der Zukunft der Bauwirtschaft wie Building Information Modeling (BIM) diskutiert, eine Arbeitsmethode der vernetzten Planung, Ausführung und Bewirtschaftung von Gebäuden mithilfe von Software. Welchen Zusammenhang kann man dabei zur Gotik bzw. zu den damaligen Arbeitsstrukturen und Vorgehensweisen herstellen?

Nagl: Die Zusammenhänge, die mit dem Begriff BIM erfasst werden (Strukturen, Sichten, Hierarchien, verschiedenartige Details der Gewerke, Querbezüge, Arbeitsorganisation, unterschiedliche Hintergründe der Beteiligten, notwendige Finanzen, fortdauernde Änderung bei der Nutzung und Wartung), gab es damals auch. Es gab aber keine technischen Hilfsmittel hierfür, keine Computer, keine Dokumente, keine Archive und Werkzeugunterstützung, keine Unterstützung bei der Kommunikation. Zur Zeit der Gotik hatten die Beteiligten alles im Kopf. Umso mehr muss man die Leistungen der damaligen Zeit bewundern.

Sie sprechen in Ihrem Buch oft das Thema Wiederverwendbarkeit an. Wie lassen sich die Ideen und Erkenntnisse Ihres Buches auf andere Bereiche übertragen und somit wiederverwenden?

Nagl: Eigentlich geht es weniger um Übertragung als um die Entdeckung, dass es das Thema Wiederverwendung und seiner Spielarten damals schon gab. Aus diesem Komplex Wiederverwendung möchte ich nur einen Aspekt herausgreifen, den der Muster. Es gibt Muster für ganze Kirchen, für große Teile (Haupthaus, Querhaus, Vierung, Chor, Türme), für die Travée (Querschnitt durch ein ganzes Haus, über verschiedene Joche), für Pfeiler/Säulen, Gewölbe, Strebewerk, für Maß- und Schleierwerke, also von der ganzen Kirche bis zu deren kleineren Teilen. Das Verwenden und Abändern dieser Muster und das Bilden größerer Einheiten ist ein wesentlicher Teil der Wiederverwendung.

Im Untertitel des Buches sprechen Sie von intelligentem Entwurf. Welche Aspekte spielen dabei eine Rolle?

Nagl: Ein wesentlicher Aspekt ist die bereits angesprochene Wiederverwendung. Hinzu kommt die Parametrierung, in der Informatik auch Generizität genannt. Die oben erwähnten Muster haben Stellschrauben zu deren Veränderung. Aus Mustern können andere gewonnen werden, z. B. von Haupthaustravée zu Chorsegment. Muster, Kompositionen und Gesamtlösungen gehören zu Klassen, in denen man Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Exemplare mit Ähnlichkeiten und Unterschieden charakterisiert. Kurzum, der Entwurf kann umso intelligenter sein, von seinem Aufwand und seiner Qualität her, je klarer und spezifischer sich die Gebäudeklasse und die Teile beschreiben lassen. Das schlägt sich dann deutlich in der Struktur und Effizienz der Entwurfsprozesse nieder.

Foto (privat): Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Manfred Nagl leitete von 1986 bis 2009 den Lehrstuhl für Softwaretechnik an der RWTH Aachen, seit 2009 arbeitet er dort als Emeritus. 2010 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik der Universität Paderborn.