Digitaler Zwilling - Vermittler zwischen zwei Welten

Was charakterisiert einen Digitalen Zwilling? Welche Möglichkeiten bietet er Mitarbeitenden? Wie bringt er einem Unternehmen allgemeinen Nutzen? Wie führen Unternehmen Digitale Zwillinge ein? Diesen Fragen gehen Prof. Dr. Gregor Engels und Burkhard Kehrbusch in diesem Beitrag nach, liefern Antworten und geben Empfehlungen.

Generelles Konzept eines Digitalen Zwillings

Die vierte industrielle Revolution ist dadurch geprägt, dass Produktionsprozesse mit modernster Informations- und Kommunikationstechnik verbunden werden. Dadurch werden diese Prozesse unmittelbar überwachbar, flexibel steuerbar und infolgedessen effizienter und effektiver. Auf technischer Ebene entstehen intelligente, vernetzte Systeme aus physischen und digitalen Komponenten. Der Begriff der cyber-physikalischen Systeme (CPS) kennzeichnet derartige Systeme.

Ein CPS stellt durch Sensoren und Aktoren Verbindungen zwischen der realen und der digitalen Welt her. Sensoren zeichnen Daten von realen Elementen in Echtzeit auf und können unmittelbar digitale Verarbeitungen anstoßen. Aktoren geben Ergebnisse der digitalen Verarbeitung an die realen Elemente weiter. Zur Strukturierung der hierbei anfallenden Datenmengen wurde das Konzept des Digitalen Zwillings („Digital Twin“) eingeführt. Durch das Zusammenstellen geeigneter Daten wurden primär für Produktionsmaschinen digitale Abbilder geschaffen, die es ermöglichen, das aktuelle Verhalten dieser Maschinen aufzuzeichnen und das künftige Verhalten unter Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) und Simulationstechniken zu planen. Die so entstandenen Digitalen Zwillinge für Produktionsmaschinen sind zum Beispiel Grundbausteine für die Automatisierung von Produktionsabläufen sowie für digitale Plattformen und darauf aufsetzende Serviceleistungen.

Generell betrachtet, ist der Digitale Zwilling das Datenmodell eines realen Elements, das in Echtzeit Veränderungen dieses Elements mithilfe von Sensortechniken erfasst, in einem digitalen Element speichert und für weitergehende Verarbeitungen strukturiert bereitstellt. Der Digitale Zwilling ist somit ein Vermittler zwischen der realen und der digitalen Welt.

Der Digitale Zwilling für Menschen

In der Diskussion zu Industrie 4.0 hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Mensch als Mitarbeiter, Kunde, Zulieferer usw. in die Gestaltung industrieller Abläufe einbezogen werden muss. Wir sprechen im Ergebnis von menschzentrierten bzw. sozio-cyber-physikalischen Systemen (SCPS). Es liegt also nahe, das Konzept des Digitalen Zwillings auf digitale Abbilder für Menschen zu erweitern.

Das Thema ist heikel. Denn es tangiert die Überwachung und Beeinflussung von Menschen, den Schutz von privaten Daten oder die Datensouveränität. Dies wird immer kritischer, da bereits heute vielfältige Daten über Menschen erhoben werden, wie zum Beispiel Daten über Vorlieben und Einkaufsverhalten von Kunden oder über Arbeitsweise und Arbeitsleistung von Mitarbeitenden. Vorangetrieben werden entsprechende Erhebungen und Auswertungen von dem notwendigen Bestreben der Unternehmen, den Unternehmenserfolg zu sichern. Die Einwilligung der Betroffenen wird typischerweise durch pauschale, DSGVO-konforme Zustimmungen eingeholt.

In unseren Forschungsarbeiten zum Thema Arbeit 4.0 haben wir uns damit befasst, wie das Konzept des Digitalen Zwillings für einen Menschen („Digital Twin for Humans (DTH)“) gestaltet werden kann, damit es sowohl dem Unternehmen als auch dem einzelnen Menschen Vorteile bietet. Tatsächlich kann der Digitale Zwilling für Menschen nicht nur den Aktionsradius eines Menschen in seinem digitalen Umfeld erweitern, sondern auch die Souveränität über seine Daten verstärken. Aus der Sicht des Mitarbeitenden bedeutet dies für seine Rolle im Unternehmen etwa: Welche Daten gebe ich für welchen Zweck frei? Wie erfolgt die Rückmeldung an mich? Wie lässt sich mein Arbeitsplatz interessanter, sicherer und nachhaltiger gestalten, indem zum Beispiel Assistenzsysteme an meine Bedürfnisse und Kenntnisse angepasst werden? Wie können Informationen bedarfsgerecht vorbereitet und mir situationsgerecht z. B. in eine Augmented-Reality-Brille eingeblendet werden?

Auf der anderen Seite können auch für die Unternehmensführung wichtige Fragen leichter und menschengerechter beantwortet werden: Welcher Mitarbeitende steht mit welchen Kompetenzen für die Erledigung einer bestimmten Aufgabe zur Verfügung? Ist er aktuell in der Lage, diese Aufgabe zu erledigen? Wie kann er unterstützt werden? Ist der Kunde rechtzeitig und wunschgemäß bedient worden? Wie zufrieden ist er mit den erhaltenen Leistungen? All dies sind Fragen im Tagesgeschäft eines Unternehmens, die möglichst in Echtzeit und für die betroffenen Menschen nachvollziehbar beantwortet werden sollten, damit ein Unternehmen nachhaltig erfolgreich geführt werden kann.

Der Digitale Zwilling für Unternehmen

Über einzelne Elemente (Maschinen, Mitarbeitende), über ihr Zusammenwirken und über das Tagesgeschäft hinaus sind Fragen zur strategischen Weiterentwicklung des gesamten Unternehmens zu bearbeiten – etwa Fragen zur Position im Markt, zur Bedeutung neuer Technologien oder zur Entwicklung des Produktportfolios. Die Antworten dazu basieren auf Daten, die im täglichen Betrieb eines Unternehmens und im Agieren als Marktteilnehmer an unterschiedlichen Stellen und in vielfältiger Form anfallen: etwa in analoger Form auf Papier, in verschiedensten digitalen Formaten, in den Köpfen einzelner Mitarbeitender oder des Unternehmers selbst. Häufig fehlt eine umfassende und strukturierte Behandlung dieser Daten sowie eine Integration von Datenquellen. Derartige Medienbrüche führen zwangsläufig zu Mehraufwänden, Fehleinschätzungen und späten Aktivitäten.

Das Konzept des Digitalen Zwillings bietet auch hier Vorteile. Es erlaubt nicht nur, Informationen über einzelne Elemente strukturiert und digital zu verwalten. Digitale Zwillinge können auch miteinander vernetzt werden und dadurch das Zusammenspiel der realen Objekte digital zugänglich machen. Darüber hinaus liegt es nahe, das Konzept eines Netzwerks von Digitalen Zwillingen auf alle unternehmensrelevanten Elemente und auf die Informationen über diese Elemente auszudehnen. Hierzu gehören etwa Prozesse, Organisationsstrukturen und Finanzflüsse. Damit entsteht faktisch der Digitale Zwilling eines Unternehmens („Digital Twin for Enterprises – DTE“).

Eine derartig umfassende und strukturierte Verwaltung von Unternehmensdaten ermöglicht den unmittelbaren Einsatz moderner KI-Techniken auf Unternehmensebene. Hiermit können Unternehmensdaten analysiert, typische Muster und Trends entdeckt und Fehlentwicklungen frühzeitig aufgespürt werden. Die Ergebnisse ermöglichen, Unternehmensabläufe zu simulieren und zu verändern, das Gesamtteam aller Mitarbeitenden effektiver einzusetzen, Maschinenparks optimal zu warten oder die digitale Kundenansprache zu verändern.

Ein unternehmensweit durchgängiges Konzept Digitaler Zwillinge ermöglicht außerdem völlig neue Arbeitswelten: Zum Beispiel können physische Inspektionen von Betriebsstätten minimiert werden. Das bietet nicht nur in schwer zugänglichen Bereichen Vorteile, sondern eröffnet generell neue Freiheitsgrade in der Gestaltung von Arbeitsbedingungen. Ein weiteres Beispiel sind aktuelle Entwicklungen, die mit starkem Einfluss aus dem Gaming-Bereich bei Kollaborations- und Seminar-Werkzeugen stattfinden. Die hier entstehenden Anwendungen ermöglichen Menschen, mit ihren animierten Digitalen Zwillingen („Avatare“) den Büroalltag in virtuelle Räume zu verlegen, wo sie zwanglos anderen Menschen begegnen, zusammenarbeiten oder an gemeinsamen Veranstaltungen teilnehmen. Diese Anwendungen adressieren die soziale Distanz, die klassische, auf funktionale Anforderungen ausgerichtete Kollaborations-Werkzeuge hinterlassen. Diese Distanz ist als Mangel mit der Zunahme mobiler Arbeitsweisen unter den COVID-19-Restriktionen besonders deutlich geworden und dominiert die Diskussion um das „new normal“.

Empfehlungen für Unternehmen

Der Digitale Zwilling eröffnet Unternehmen und den beteiligten Menschen vielfache Chancen. Um diese nutzen zu können, muss ein Unternehmer die Rahmenbedingungen für den Aufbau Digitaler Zwillinge und ihre weitere Entwicklung schaffen. Hierzu gehören vor allem vier Dinge:

  1. Breite Akzeptanz und Unterstützung im Unternehmen herstellen, indem das Konzept von Digitalen Zwillingen und der Nutzen für das Unternehmen sowie für den Einzelnen aktiv vermittelt werden.
     
  2. Die Reife des Datenmanagements erhöhen, indem z. B. im Unternehmen bereits vorhandene Daten realen Objekten zugeordnet, Verantwortungen geklärt und Daten bereinigt werden.
     
  3. Die technische Infrastruktur vorbereiten, indem Vernetzung, Stabilität, Sicherheit und Geschwindigkeit der Datenverarbeitung ein durchgängiges und situationsbezogen erweiterbares Mindestniveau erfüllen.
     
  4. Den Digitalen Zwilling schrittweise und zielgerichtet einführen, indem erste Erfahrungen mit ausgewählten Beispielen gewonnen und diese sukzessive zu einem langfristigen Fahrplan ausgebaut werden. Nachvollziehbare Erfolge mit Digitalen Zwillingen im Kleinen sind wichtig für den Erfolg im gesamten Unternehmen.

Der Digitale Zwilling ist ein mächtiges Instrument und erschließt dem Unternehmen und den Mitarbeitenden völlig neue digitale Anwendungen. Er unterstützt, Ordnung zu wahren, rechtliche und ethische Anforderungen zu erfüllen und gleichzeitig dem Einzelnen eine Datensouveränität zu ermöglichen, die es ihm erlaubt, seinen Arbeitsplatz individuell und situationsgerecht zu gestalten. Zwar wird eine leistungsfähige Informationstechnik für die technische Realisierung eines Digitalen Zwillings benötigt. Dennoch ist der Digitale Zwilling kein reines IT-Thema. Tatsächlich überwiegen fachliche, strategische und kulturelle Fragen.

Grundsätzlich vermittelt der Digitale Zwilling zwischen der realen und der digitalen Welt eines Unternehmens. In vielen Bereichen wie z. B. der Produktionssteuerung oder teilweise unbewusst in HR-Werkzeugen wie Skills-Verwaltung und Arbeitseinteilung wird das Konzept des Digitalen Zwillings bereits verwendet. Forschungsarbeiten und erste industrielle Erfahrungen zeigen den Wert, den ein konsequenter Einsatz hat. Neue Entwicklungen zu virtuellen Arbeitswelten geben überdies einen konkreten Ausblick auf künftige Anwendungsszenarien. Der Digitale Zwilling ist demnach ein zukunftsweisendes Mittel, um die Wirksamkeit eines Unternehmens zu erhöhen. Unternehmen sollten sich deshalb mit diesem Ansatz gezielt und übergreifend auseinandersetzen.

Quelle: ADOBE STOCK/ TIERNEY

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